Elisabeth Hurth
Die (un)erträgliche Seichtigkeit des Seins Zwischen Religion und Kitsch
Kitsch – reine Gefühlssülze und Gefühlsduselei? Davon ist Kitsch oft weit entfernt. Heile-Welt-Aufgüsse? Hat Kitsch nicht immer parat. Fließband-Problemlösungen? Braucht Kitsch nicht wirklich. Kitsch kann mehr und bietet auf dem religiösen Feld etwas an, was einem „verkopften“ Glauben häufig fehlt: eine affektive Ansprache, die jenseits intellektueller Belehrung auf die sinnliche Erlebnisweise des Religiösen abhebt. Damit stehen sich Religion und Kitsch jedoch nicht unversöhnlich gegenüber. Religion ist an sich kitsch-affin. Dies wird heute offenbarter denn je – ist doch gerade das Gefühl zum Medium des Religiösen avanciert. So haben Religion und Kitsch mehr miteinander zu tun, als gemeinhin vermutet. Beide bearbeiten Fragen, die den Menschen unmittelbar angehen und denen er sich stellen muss, wenn er sein Leben bewältigen will. Beide bieten Mittel und Wege an, wie man mit dem Ist-Zustand der Welt umgehen kann. Beide schenken dem Menschen Beheimatung, verheißen Glück und verweisen auf einen unverfügbaren, geschenkten Sinn des Lebens. In einer zunehmend unübersichtlich werdenden Welt erfüllt Kitsch das Bedürfnis nach klaren Antworten und einsichtigen Strukturen. Vor allem die von vielen als unerträglich abgewertete „Seichtigkeit“ des Kitschs entlastet ein überfordertes Ich, das den digital geprägten Gesetzen der permanenten Selbstdarstellung und Selbstoptimierung ausgesetzt ist. Als Korrektiv zum neoliberalen Leistungs- und Nutzendenken vermag Kitsch dabei auch Lebenshilfe und Orientierung im Alltag zu geben und übernimmt so genuin religiöse Funktionen. Als Rezeptionsphänomen gesehen kann Kitsch zudem christliche Religionsvollzüge beeinflussen und sie sogar (erst) ermöglichen. So ist Kitsch ein (unterhaltsamer) Türöffner für einen neuen Zugang zu zentralen christlichen Themen. Religiöse Inhalte, die im Gewand des Kitschs dargeboten werden, wirken aus Sicht des Rezipienten besonders eingängig und eröffnen so die Möglichkeit, dass der Rezipient mit diesen Inhalten wieder vertraut gemacht wird. Mehr noch: Etwas das eingängig ist, wird man sich auch eher selbst zumuten und alltagspraktisch umsetzen. Die emotional besetzten Bilder des Kitschs verleiblichen den Gottesglauben. So distanzlos und intimisierend sie sich auch ausnehmen, sie vermögen die theologische Lehre von einem Gott „für uns“ (Mt 1, 23) auf eine Weise zu veranschaulichen, dass man sie sich zu Herzen bringt und nimmt. An kitschigen Bildern, die zur Herzensbildung beitragen, können sich Glaubenserfahrungen entzünden, die anrührend und erbaulich wirken, gerade weil sie sich nicht primär an Gedanken, sondern an Gefühlen festmachen. An dieser Stelle kommt dem Kitsch ein weiterer besonderer religiöser Nutzen zu. In einer Postmoderne, in der sich religiöse Bedürfnisse zunehmend individualisieren und sich an dem ausrichten, was um des Menschen willen entscheidend ist, hilft Kitsch dem Ich, mit dem fertig zu werden, was als Kontingenz erfahren wird – jenen existentiellen Grenzsituationen wie Schicksal, Leid und Tod, mit denen Religion ursächlich befasst ist. In Zeiten, in denen die christliche Heilsbotschaft zunehmend weder geglaubt noch gelebt wird, sind die niedrigschwelligen Angebote des Kitschs in jeder Beziehung ansprechender und plausibler. Sie machen es Menschen leichter, denen die Last von Schicksalsschlägen, von Leid und Tod zu schwer ist und die zudem mit der „schweren“ Kost kirchlich-christlicher gebundener Religion immer weniger anfangen können. Die kitschigen Medienprodukte, die hier untersucht werden – vom Heftroman bis zur Telenovela –, sind Alltagshelfer, die der Raserei des Lebens, dem täglichen Einerlei ein (unterhaltsames) Innehalten entgegensetzen und ihm etwas Liebenswertes, Gefühlvolles abringen. In diesem sinnstiftenden religiösen Nutzen des Kitschs liegt – aus Sicht des Rezipienten – nichts Unwahrhaftiges oder Unechtes, sondern vielmehr etwas Unverzichtbares, das zum Leben gehört.
Zur Autorin Dr. Elisabeth Hurth, PhD
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Lektorat: Magnus See M.A.
Das Buch wird verzeichnet in der Deutschen Nationalbibliographie und befindet sich im Bestand u.a. von: Library of Congress/USA
toptalente.org / als pdf: toptalente.org Zitiert in Manfred Tiemann: Leben nach Luther
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